Pressespiegel

BOULLO 4 - DER FALSCHE TAG

Anne Tismer

Aachener Zeitung, 22.04.2010

«Falscher Tag» am rechten Ort


Aachen. Etwa 50 Personen steigen die Treppen im Neuen Aachener Kunstverein (NAK) hinauf, um sich eine Performance namens «Der falsche Tag» anzuschauen. Empfangen werden sie gleich von einer ganzen Reihe von Gastgebern, die jedem die Hand schüttelten und die Gäste bitten, sich in einem Karré um die Bühnenfläche aufzustellen.


Die Aktionskünstler postieren sich derweil zur einer Lagebesprechung und verkündeten kurz darauf, dass sich die Gruppe mit dem Tag der Aufführung vertan habe. Die Performance rund um Anne Tismer hat begonnen...


Die künstlerische Grenzgängerin Anne Tismer präsentiert bereits seit dem 13. März im NAK ihr ganz eigenes Oeuvre, das von Performance über Kunstaktion, Videoarbeiten bis hin zu Objekten und Zeichnungen reicht. Für einige Tage war es nun möglich, ihr über die Schulter zu gucken. Sechs Abende lang entwickelte sie zusammen mit dem Theater Ausbruch die Aufführung «Der falsche Tag», welche jetzt einmalig zu sehen war.


Der Arbeitsprozess war für alle zwölf beteiligten Künstler besonders spannend. Am Anfang wurden zwei große Themen gesucht, welche die Basis geben sollten. Tismer entschied sich für die Themen «Vater» und «Traum». Hierzu schrieben Laien sowie Künstler ihre Gedanken und Erinnerungen auf.


In einem nächsten Schritt wurden diese Ergebnisse dazu genutzt, um für jeden Einzelnen die passende Rolle auf der Bühne zu finden. Herausgekommen ist nach sechstägigem Arbeitsprozess ein Wechselspiel zwischen realer Welt und Traumwelt, zwischen Surrealismus und Komik.


Mit einer Mischung aus Tanz- und Sprechtheater inszenierte Tismer elf kurze Akte, die stets mit Thesen und Antithesen spielen, was wiederum ein Charakteristikum für die Arbeiten der Künstlerin ist. Die Laienschauspieler tanzen, hüpfen, räkeln, wälzen sich mal singend, mal weinend, dann wieder erklärend durch den Raum. Die Zuschauer stehen wie Schaulustige um sie herum. Konstant wird das Publikum in die Performance integriert, sei es, um sich erklären zu lassen, warum Zebrafinken nicht von der Stange fallen oder wie ein «Mörderhaus» von innen aussieht.


Wer sich jedoch auf leichte Kost eingestellt hatte, wurde enttäuscht. «Der falsche Tag» ist subversiv und schwer verdaulich. Schnelle Szenenwechsel und die vielen Interaktionen machten es nicht immer leicht, das künstlerischen Crossover zu verstehen. «Mir ist wichtig, dass das Publikum gezwungen ist, sich einen Reim darauf zu machen, was gerade auf der Bühne passiert. Es ist eine ganz persönliche Auseinandersetzung mit der Gegenwart, der Realität und Surrealität», so Anne Tismer. (sc)



KLENKES – Stadtmagazin Aachen, 04/2010

Anne Tismer im NAK:

Häkelseelenverstörung

Anne Tismer lässt in der Lebensabsolvenz eines routinierten Alltags das Glimmen der wunden Seele spüren.

Der Neue Aachener Kunstverein wird ab April durch Dorothea Jendricke geleitet. Brigitte Steiner organisierte aber noch die Ausstellung mit der Grenzgängerin Anne Tismer. Es sind Bühnenbilder der Performances, Objekte, Texte, Videos und Zeichnungen der Schauspielerin zu sehen. Anliegen des NAK ist es schon länger, die Kunst in den Grenzbereichen zur Musik, zur Literatur, zur Gartenkunst, zum Design oder zum Theater vorzustellen. Jetzt ist es gelungen, die im Regietheater renommierte Anne Tismer zu ergattern, deren Bildwelten aus ihrer szenischen Erfahrung und sofort spürbaren Intensität des mimischen, gebärdlichen und prinzipiell stimmlich differenzierten Spiels resultieren. Gesprächig ist sie nämlich in ihrer Performance zur Einführung nicht gewesen.

Klangbildkulisse

Eigentlich war „anne ka’s wunschkonzert“ eine Stummfilmrolle mit eingespielten Jingles, die ihr Mitstreiter Burkart Ellinghaus aus dem Off lieferte. Alle Geräusche und Empfindungen wurden in Slapstickmanier und der aus den Medienwelten zur Gewohnheit gewordenen, künstlich eingespielten, in ihrem Wirkungsmodus übertriebenen Klangkulisse erzeugt. Die so schon artifizielle Spielweise wurde durch eine neurotisch flüssige, teils zu verzweifelter Hektik aufgepulsten Pausenlosigkeit des Handlungsablaufs gesteigert und trefflich hintermalt durch eine Einzimmerwohnungskulisse mit Ikearegal und Behelfsklapptisch, Matratzenbett, Tür und Fenster. Alle Gegenstände der Wohnung waren mit kindlich provisorisch bunt bemalten Zetteln auf schelmische Weise gekennzeichnet: Rausgeh, Reinkomm=Tür, Waschmik als Spülbecken und diverse Behältnisse, die als Kühlschrank, Ofen etc. fungierten.

Banales Interieur für einen banalen, mit absolvierten Handlungsmustern gefüllten Alltag. Quasi die pseudowohlig gewöhnliche Stressphase zwischen den Straßenkämpfen. Die penibel überprüften Einzelschritte und verbissenen Sorgfaltsübungen im Essen, Waschen, Pinkeln, Schlafen und Duschen wurden bisweilen von Akten der Verzweiflung, Wut, Angst und dem Eindringen der Außenwelt über Radio durchbrochen. Sehnen und Hoffen vermittelte sich durch die eingespielten Radiohits und ihre Texte. Gehäckelte Pizzas, Ausscheidungsprodukte, Haustierschlangen und schlichteste Requisiten ließen die bodenlos bizarre und widersprüchlich angespannte Lebenssituation der Protagonistin spürbar werden.

Die verzettelte Ungelecktheit des Auftritts und der Kulisse setzt sich im Ausstellungsraum im Obergeschoss in der ruppig mundartelnden Diktion der Gedichte mit sensibel konkretisierenden Wortzusammenrammungen und in Tismers Gelegenheitsskizzen fort. Das leffzt an Dürftigkeit, hat aber einen selbstbewusst kecken Ton, mit dem sonst gern geheiligte Stilmittel (Materialgerechtigkeit, Proportionalität, Solidität) ignoriert werden. Gehäkeltes mit seinem Biederfrau-Image prallt hier in Form in einander verkämpfter Puppen auf Alltagsbrutalität. Allerlei Unbeholfenes, Flüchtiges, hastig Aufgezeichnetes fällt auf. Situativer Ideen-Auswurf, dessen Umsetzung ins Bildliche sich offensichtlich der Seherfahrung der Schauspielerin verdankt, die ständig in Kulissen agiert, deren durchaus eindrucksvolle Bildwirkung auf billig und zweckmäßig zusammengebrachten Bestandteilen beruht. Eine preiswerte Illusionswelt, die als Bildwelt nutzbar gemacht wird. Ob die Bildkraft reicht, mag eine Selbstüberprüfung klären, die durch kommende Aufführungen und ausgestellte Werk-Relikte möglich wird, die den arrangierten Performanceüberbleibseln eines Beuys etc. ähneln. Fluxusflapserei mit Schroffrealismus. Wirklichkeitswahn ohne Weihewille. 

Dirk Tölke


17. 04.2010, Aachener Nachrichten

„Vielleicht entsteht da etwas“

Unter Anleitung der Künstlerin Anne Tismer hat eine Aachener Gruppe eine Performance eingeübt. Alle reden aneinander vorbei – wie im richtigen Leben. Das Ergebnis wird am Sonntag beim NAK aufgeführt.

VON SARAH SILLIUS

Aachen. In der Mitte des Raumes liegt ein bunter Haufen Klamotten. Daneben stehen eine Art Haus aus Pappe, ein Karton mit einer darin befestigten Glühbirne, im Hintergrund ein kleines Podest. „Wir haben doch gar nichts vorbereitet“, sagt ein kleiner Junge. „Und jetzt?“, fragt sich eine erwachsene Frau. Die anderen zehn um sie herum stehenden Leute sehen ratlos aus. Sie halten Schilder aus Pappe in den Händen. „Alptraum“ steht darauf, „Wasserfänger“ oder „Französisch“.

Die Performance-Künstlerin Anne Tismer steht am Rand, beobachtet und überlegt. Dann gibt sie die nächste Anweisung: „Ihr müsst das mehr übertreiben, lauter sprechen.“

In der vergangenen Woche hat Tismer mit der bunt gemischten Gruppe eine Performance im Neuen Aachener Kunstverein (NAK) eingeübt. Das Ganze nennt sich „Aktion Boullo 4“ und ist eine Kooperation mit dem Theater Ausbruch, sowie ein Bestandteil von Tismers Ausstellung „Körperzentralhaltestelle“, die zur Zeit in den Räumen des NAK zu sehen ist.


„Du darfst das nicht spielen, Felix!“, ruft die künstlerische Grenzgängerin einem der Nachwuchs-Performer zu. Wichtig ist, dass das Ganze alltäglich wirkt, dass es fließend ineinander übergeht, weiß Tismer. Gerne gibt sie ihre Erfahrung an Laien weiter, die Zusammenarbeit mit ihnen ist zentraler Bestandteil ihres Schaffens. „Du musst ihm ins Wort fallen, es darf kein Loch im Dialog entstehen,“ erklärt sie Ferya Werhan. Der 15-Jährigen gefällt dieser experimentelle Prozess: „Wir lernen hier nicht nur Texte auswendig, sondern können kreativ sein, das ist mehr Kunst als Schauspielerei.“


Vor Beginn der Aktion haben die Teilnehmer Hausaufgaben von Tismer bekommen. Ferya hat ein Referat über den Satz des Pythagoras vorbereitet und sich einen Werbespot ausgedacht. Zu Beginn der Woche hat Tismer dann persönliche Fragen an die Teilnehmer gestellt, und aus den vielen kleinen Bruchstücken der Antworten ist ein collageartiger Text entstanden.

Henning Rohde hat sich vorab mit der Pest im Mittelalter beschäftigt. Auch für ihn ist so ein spielerischer Ansatz etwas Neues: „Bislang habe ich zwar bei vielen Theaterstücken mitgewirkt, doch dabei wurden die Texte nie verfremdet.“ Der 67-Jährige findet es spannend, wie die verschiedenen Textfragmente der Teilnehmer nebeneinander stehen bleiben, anstatt sich sinnvoll miteinander zu verbinden. „Der eine Teilnehmer erzählt von der Pest im Mittelpunkt, der andere von der ehemaligen DDR. Sie reden völlig aneinander vorbei – so wie es im Alltag oft passiert.“

Genau das will Tismer abbilden: das zufällige Nebeneinander, das, was auf der Straße passiert. Ob es am Ende einen roten Faden, oder gar eine Auflösung gibt ist bis dato noch unklar: „Vielleicht entsteht da noch etwas – aber vielleicht auch nicht.“


Der von Tismer praktizierte offene Ansatz entspricht dem Konzept des Theater Ausbruch, erklärt Theo Pfeiffer. Er ist bei der Aktion für die Regieassistenz zuständig. Pfeiffer erklärt, wie das Theater Ausbruch die Aachener Gruppe zusammengestellt hat: „Weil wir immer das Experiment suchen, war es uns wichtig, dass die Gruppe möglichst heterogen ist.“

Am morgigen Sonntag wird die bunte Gruppe ihr Endergebnis präsentieren. Um 18 Uhr ist die Performance in den Räumen des NAK, gegen einen geringen Obolus, zu sehen. Die Künstlerin selbst ist bei der der Finissage am 9. Mai in Aktion zu erleben. Dann führt sie, zusammen mit ihrem Partner Burkhart Ellinghaus, um 18 Uhr ihre Performance „Bongani“ auf.


Eine Frage an

Anne Tismer Künstlerin

Was fasziniert Sie an so einem offenen Entstehungsprozess?

Ich schaue den Menschen gerne dabei zu, wie sie sich bewegen und wie sie sprechen. Besonders bei den Mädchen, die hier mitmachen, liegt für mich darin eine besondere Schönheit.



12.03.2010, Aachener Nachrichten

Der Körper wird zum Objekt

Neuer Aachener Kunstverein stellt das Werk von Anne Tismer vor

Von Sarah Sillius

Aachen. „Sie entwirft ihren eigenen Kosmos und macht das Cross-over zwischen verschiedenen Kunstformen perfekt“, schwärmt Brigitte Steiner, kommissarische Leiterin des Neuen Aachener Kunstvereins (NAK) von Anne Tismer. Sie sei eine Ausnahmekünstlerin, die mit ihrer Verknüpfung verschiedener Kunstgenres genau den Geschmack des Kunstvereins treffe. Dass Tismer die Welt und aktuelle Themen ganz eigenwillig wahrnimmt und interpretiert, lässt sich schnell feststellen. Wenn sie ihre künstlerische Arbeit in Worte zu fassen versucht, schweift sie immer wieder ab und schlägt neue gedankliche Brücken. Es steckt zu viel kreatives Potenzial in ihr, als dass sie es einfach verbal einfangen könnte.

Einen authentischen Einblick in ihr komplexes Oeuvre, das von Performances über Kunstaktionen, Videoarbeiten, Objekte und Zeichnungen reicht, bietet die Ausstellung „Körperzentralhaltestelle“. Um eine Ausstellung im klassischen Sinne handelt es sich hierbei nicht. Vielmehr sind Gebrauchsgegenstände aller Art wie Regal, Tisch, Stuhl, Toilette, Duschvorhang und Regenrinne collageartig in zwei Räumen des NAK angeordnet, die der Zuschauer wie eine Art Bühne betreten kann. Ob es sich um Pizza, Figuren oder menschliche Exkremente handelt: Vor allem Woll- und Häkelobjekte ziehen sich buchstäblich wie ein roter Faden durch Tismers Kunsträume, in denen ihre Performances stattfinden.

Gegenstände mit Eigenleben

Daneben finden sich Zeichnungen und Entwürfe der Künstlerin wieder. „Sie stammen aus unterschiedlichen Lebensphasen, stehen aber alle in einer Verbindung zueinander“, sagt die ehemalige Schauspielerin, die seit sechs Jahren ihr eigenes performatives Werk schafft und sich seitdem nur noch selbst, ohne fremde Regieanweisung, inszeniert.

In Tismers Paralleluniversum wird der Körper selbst zum Objekt. Alle daneben existierenden Gegenstände führen ein Eigenleben, zu denen Tismer eine ähnliche kommunikative Beziehung wie zu ihren Mitmenschen pflegt.

Die Performance „Anne Ka’s Wunschkonzert“ hat Tismer in Anlehnung an Franz Xaver Kroetz’ gleichnamiges Stück entwickelt. In ihrer Performance habe sie den Stoff aber aus seiner Depressivität befreit: „Das Alleinsein fasse ich nicht länger als etwas Negatives auf.“ Eine Spur bedrückender ist Tismers Performance „Bongani“, die das Schicksal eines traumatisierten Kindes assoziativ darstellt.

Mit einer Gruppe des Aachener „TheaterausBruch“ wird Tismer in einer dritten Aktion, aus Gesprächen heraus, eine ganz neue Performance entwickeln. Besucher können diesen kreativen Entstehungsprozess live miterleben. „Bei der Finissage wird es zudem ein Künstlergespräch geben“, kündigt Steiner an. Hierbei könne sich den Aachenern der Tismer-Kosmos noch ein Stück weiter öffnen.